Die Idee eines Gerätes, das man sich auf dem Kopf setzt, um damit immersiv Bilderwelten zu erleben ist nicht neu. “Pygmalion’s Spectacles” ist eine Kurzgeschichte von Stanley G. Weinbaum, die 1935 veröffentlicht wurde und gilt als eine der ersten literarischen Erwähnungen der Idee einer virtuellen Realität. In der Geschichte erfindet Professor Ludwig eine Art von Brille, die dem Träger eine künstliche Realität erleben lässt, die alle Sinne umfasst: Sehen, Hören, Schmecken, Riechen und Tasten.
Der Protagonist, Dan Burke, trifft den Professor Ludwig und wird in die Funktionsweise der Brille eingeführt. Er erfährt, dass diese Realität durch eine Geschichte gespeist wird, die auf einem holographischen Film aufgezeichnet ist. Burke entscheidet sich, die Brille auszuprobieren, und wird in eine vollständig immersive Welt — Paracosmo — versetzt.
In dieser hat er eine romantische Begegnung mit einer Frau namens Galatea. Die Erfahrung ist so real, dass Burke sich in die virtuelle Figur verliebt. Beim Erwachen aus der virtuellen Welt wirkt diese Erfahrung noch lange nach.
Die Geschichte stellt Fragen über die Natur der Realität und der Wahrnehmung und erkundet die potenziellen emotionalen und psychologischen Auswirkungen von vollständig immersiven virtuellen Welten auf den Menschen. “Pygmalion’s Spectacles” war wegweisend in der Science-Fiction-Literatur, indem es Konzepte vorwegnahm, die in der modernen Diskussion um virtuelle Realität und Metaverse zentral sind.
Weinbaums Kurzgeschichte zeigt deutlich, wie sehnsüchtig wir Menschen über Jahrhunderte hinweg von der Vorstellung angetrieben werden, eigene Phantasien und Träume zu visualisieren. Das Streben nach perfekter Realität entwickelt sich über die Zeit hinweg innerhalb Kunst, Wissenschaft und Kultur. Aus Bildern werden bewegte Bilder, die in der Vorstellung Weinbergs sogar immersiv mit allen Sinnen erlebbar werden können. Auch die Frage nach der Realität verschwimmende Grenzen zu digitalen Phantasien inspirieren hier geschichtlich tiefer einzutauchen. Galatea nennt den Protagonisten einen Schatten. Wir kennen diese Vorstellung aus Platons Höhlengleichnis, wo die Realität als Schattenwurf eines Lagerfeuers an eine Steinwand beschrieben wird, die darin eingeschlossenen Menschen die Wirklichkeit nie zu Gesicht bekommen. So ist Paracosmo ebenso die Realität der virtuellen Gestalten denen das Altern oder der drohende Tod völlig fremd sind. Aber wie in Platons Ketten sie einer vordefinierten Bestimmung, einer Storyline folgen.
Pygmalion formt Galatea aus Elfenbein
Ebenso ist der titelgebende Pygmalion eine Figur aus der griechischen Mythologie, ein Bildhauer, der sich in eines seiner Kunstwerke verliebt. Diese Geschichte wurde von Ovid in seinen “Metamorphosen” erzählt. Pygmalion war nicht von den Frauen seiner Zeit überzeugt und schuf stattdessen eine Statue aus Elfenbein, die er “Galatea” nannte. Die Statue war so schön und detailliert gearbeitet, dass Pygmalion sich in sie verliebte. Er betete zur Göttin Venus (Aphrodite in der griechischen Mythologie), die seiner Statue Leben einhauchte, woraufhin Galatea zu einer echten Frau wurde. Pygmalion heiratete sie schließlich.
Die Geschichte von Pygmalion hat das Thema der Kreation, die ihren Schöpfer übersteigt, inspiriert und findet sich in vielen kulturellen Werken wieder. Im Zusammenhang mit der Kurzgeschichte “Pygmalion’s Spectacles” spielt die Erzählung auf die Idee an, dass künstlich geschaffene Welten oder Wesen so perfekt oder überzeugend sein können, dass sie von ihren Schöpfern als real empfunden werden.
Heute, fast 100 Jahre nach dem Erscheinen der bewegenden Kurzgeschichte sind wir in der Lage, in digitale Welten mittels XR Technologien einzutauchen. Dennoch fehlen uns noch wichtige Schlüssel Elemente, wie das Riechen, Schmecken und Fühlen. Vielleicht sollten wir nach Professor Ludwigs Patent nochmals eingehender suchen.
Die Kurzgeschichte ist auch als digitale Version verfügbar: https://www.amazon.de/Pygmalions-Spectacles-English-Stanley-Weinbaum-ebook/dp/B004SQUN5Y/
0 Kommentare